Blutnelke

Es waren bereits viele Jahre vergangen und Nereide lebte zusammen mit Bazriel und seinen Nächtlern in der finsteren Stadt Degoral. Der Himmel war stets blutrot gefärbt und es schien, als würde er Tränen vergießen, um so der Opfer durch Bazriels schreckliche Schlachten zu gedenken. Nereide lag in ihrem mit Stroh bedeckten Bett aus Stein und blickte hinauf zur kalten Steindecke. Sie erinnerte sich zurück an die Zeit bei ihrem Ziehvater, als er sie als kleines, wehrloses Kind aufgenommen hatte. Sie konnte sich jedoch nicht mehr daran erinnern, auf welche Weise sie zu ihm gelangt war. Es war, als würde ein dicker Nebelschleier die Sicht auf ihre Herkunft und das, was einst war und woher sie kam, versperren. Damals war sie so hilflos gewesen und nun war sie Bazriels mächtigste Kriegerin.

Es war ihr bewusst, dass sie viel dazu gelernt hatte. Unter anderem lehrte Bazriel sie den Umgang mit Waffen, aber auch Härte, Skrupellosigkeit und vor allem eines: Gnadenlosigkeit. Ihr Schwert, welches sie auf den Namen „Blutnelke“ getauft hatte, führte sie bereits seit vielen Jahren mit sich. Es ging etwas Magisches von ihm aus. Bazriel hatte es ihr geschenkt, kurz nachdem er sie bei sich aufgenommen hatte. Es war, als würde dieses Schwert sie all den Kummer und das Leid, was sie seit ihrer Ankunft in Degoral verspürte, vergessen lassen und sie in einen geheimnisvollen Bann ziehen. Als sie es das erste Mal in Händen hielt, glühten die in die Klinge geschmiedeten, feinen Schriftzeichen grell auf. Wut und Hass stiegen in Nereide auf und der Nebelschleier wurde mit den Jahren dichter und dichter, bis von ihrem früheren Ich kaum etwas mehr übrig war.
Bazriels seelenlose Nächtler waren lediglich Mittel zum Zweck. Erschaffen, um die zu töten, welche sich gegen ihren Meister stellten. Nereide mochte es, mit ihnen zu spielen. Sie trainierte an ihnen ihre Fähigkeiten, auch wenn der ein oder andere Nächtler sein Leben hierdurch verlor. Aber was machte das schon, es waren lediglich durch ein schwarzmagisches Ritual erschaffene Kreaturen, deren Existenz in Nereides Augen wertlos war.

Plötzlich wurde sie durch ein Scharren an ihrer Tür aus ihren Gedanken gerissen. Nächtler kratzten mit ihren blauschimmernden Krallen an den Türen zu ihrem Schlafgemach. Langsam erhob sie sich, warf sich ihren rostbraunen Umhang über die Schultern und schritt entschlossen zur Tür. Als sie öffnete, verbeugten sich diese in ihren Augen kleinen, nach Fäulnis stinkenden Fellknäuel vor ihr, doch sie beachtete sie nicht weiter. Sie wusste genau, dass ihr Meister sie geschickt hatte, um sie zu sich zu rufen. Er hatte ihr so viel gegeben, war fast ihr ganzes Leben lang für sie da gewesen, hatte für sie gesorgt, ihr zu essen und ein Dach über dem Kopf gegeben. Von ihm hatte sie so viel gelernt. Sie verehrte ihn. Mit schnellen Schritten ging sie den langen Flur entlang, welcher in die große Halle führte. Als sie um die Ecke bog, erblickte sie bereits Bazriel, wie er vor seinem Spiegel stand und mit der Gestalt, welche ihm innewohnte, leise sprach. Nereide war sich sicher, dass Bazriel einen Großteil all seiner Macht von der Person aus dem Spiegel bezog. Er hütete ihn wie seinen eigenen Augapfel. Stets setzte er Nächtler ein, um sein Heiligtum zu bewachen. Er konnte ohne ihn nicht leben, dessen war sich Nereide bewusst. Als sie ihm als kleines Kind einmal zu nahe kam, bewies Bazriel seinen Jähzorn und jagte sie auf ihr Zimmer. Seitdem machte Nereide immer einen großen Bogen um das Gebilde, stets darauf bedacht, ihren Meister nicht zu verärgern.

Er schien ihre Anwesenheit zu spüren, denn langsam drehte er sich zu ihr und sah sie mit seinen gelbfunkelnden Augen an. „Ahhh, Nereide. Meine getreue Dienerin. Tritt näher.“ Langsam machte sie ein paar Schritte auf ihren Meister zu und verbeugte sich tief. Als er nur noch etwa zwei Schritte entfernt vor ihr stand, begann er mit bebender Stimme bösartig zu lachen. „Es ist soweit…. Ich spüre, dass ihre Ankunft nahe ist. Bald wird das kleine Mädchen die Welt Argonan betreten und dann gibt es kein Entkommen mehr für sie. „Was soll ich tun, Meister? Wie kann ich euch dienen?“ Abgewandt von ihr sprach er erneut. „Wir müssen den richtigen Zeitpunkt abpassen. Bis dahin müssen wir uns noch ein wenig in Geduld üben.“ Er wandte sich von ihr ab und begann erneut zu sprechen. „Ich möchte, dass du dich gut vorbereitest. Sobald das Kind in unserem Besitz ist, werden die Völker Argonans versuchen, sie zu befreien. Es wird daher vermutlich zu einer Schlacht kommen und ich brauche dich dann an meiner Seite. Bisher haben wir es nicht geschafft, Eyda und Satyre zu besiegen. Ich werde Truppen entsenden, welche weitere Angriffe starten werden, um ihre Reihen zu schwächen.“ Nereide zögerte zunächst, begann dann jedoch zu sprechen. „Lasst mich eure Truppen anführen, Meister. Wir werden diese Schlacht mit der richtigen Strategie gewinnen.“ „Nein Nereide, du bleibst hier und sammelst deine Kräfte. Ich brauche dich für die alles entscheidende Schlacht. Bei meinem Plan darf nichts schiefgehen.“ Nereide verbeugte sich tief und sprach mit deutlicher Stimme. „Jawohl, Meister. Wie ihr es wünscht.“ Gerade als sie sich entfernen wollte, begann Bazriel noch einmal zu sprechen. „Ich vertraue auf dich und deine Fähigkeiten, Nereide. Also enttäusche mich nicht, wenn es soweit ist. Und nun lass mich allein.“ Bazriel wandte sich wieder seinem Spiegel zu und berührte mit der Hand dessen Oberfläche. Es schien, als würde er jeden Moment in ihm versinken. Nereide machte auf dem Absatz kehrt und verließ die großen Hallen.
Sie würde ihren Meister stolz machen. Das war alles, was in ihrem Leben zählte.

(Verfasserin: Carina Kallenberg)