Lithalil´s Versprechen

„Efrimir!“

Mit einem Ruck schreckte Lithalil aus dem Schlaf. Wieder dieser Traum. Woche für Woche, Nacht für Nacht war er ihr ständiger Begleiter geworden. Es war immer dasselbe. Da stand er, direkt vor ihr, so nah, dass es schien, sie könne ihn berühren. Doch sobald sie die Hand nach ihm ausstreckte, verschwand er – und sie fiel ins bodenlose Nichts. Natürlich konnte und durfte sie sich diese Träume nicht so nahe gehen lassen. Sie lebte für den Kampf um Gerechtigkeit und die Freiheit für Argonan. Er war ihr höchstes Gut und der Sinn ihres Lebens. Ihre königliche Herkunft hatte sie nie gekümmert, nein, sie war eine Kriegerin. So war es schon vor Beginn des Krieges gewesen und so würde es immer sein. Aber auch Krieger trauerten und die Zeit ihrer Trauer war noch lange nicht vorbei. Sie hatte ihn so sehr geliebt.

Efrimir war kein Krieger gewesen, nicht zu Beginn, sondern ein junger Gelehrter, in der Ausbildung zum Berater der Königin. Mit Büchern hatte er mehr anfangen können als mit Schwertern. Dennoch stellte sich schon bald nach Beginn des Krieges heraus, wie gut er darin war, Schlachtpläne und Kampfstrategien zu entwerfen. Er war ein meisterhafter Taktiker gewesen. Zunächst hatte er ihrer Mutter Gayia, der Königin der Eyda, hilfreich zur Seite gestanden, später dann aber hatte er sich direkt an Lithalil, die beinahe jede Schlacht anführte, gewandt. So hatten sie sich kennengelernt, während sie über Landkarten und Angriffsskizzen gebeugt die Nächte durchwachten und sich die Köpfe zerbrachen, wie man den finsteren Herrscher Bazriel endlich aufhalten könnte. Aber Efrimir hatte sich lange Zeit nur im Hintergrund gehalten, war selbst nicht in die Schlacht gezogen. Zum Töten war sein Herz viel zu sanft.

Lithalil hatte es sich angewöhnt, am Abend, bevor sie zu einem Kampf gegen Bazriels Nächtler-Gehilfen aufbrachen, in den Mondblumengarten zu gehen und die Götter um Beistand zu bitten. Sie betete viel, seit der Krieg begonnen hatte, und hier in der freien Natur fühlte sie sich auf besondere Weise erhört und ungestört. Aber in dieser schicksalhaften Nacht war sie dort nicht allein. Er betrat den Garten still und heimlich, aber sie spürte seine Anwesenheit dennoch sofort. Das jahrelange Training hatte ihre Sinne geschärft. Stumm drehte sie sich um. Eine kurze Ewigkeit lang standen sie einfach nur dort und sahen sich schweigend an. Keiner von ihnen wagte etwas zu sagen. Und dann brach er schließlich doch noch die Stille. „Prinzessin… Ich weiß nicht, ob ich etwas sagen kann, was das rechtfertigen wird, was ich nun tun werde. Ich weiß nur, dass mir langsam die Zeit davonläuft. Jedes Mal, wenn Ihr in den Kampf zieht, denke ich, es könnte das letzte Mal gewesen sein, dass ich Euch sehe. Und ich könnte nicht leben, ohne auch nur einmal…“ Er unterbrach sich, wirkte sonderbar verlegen, und setzte dann erneut zu reden an. „Deshalb… bitte verzeiht mir.“ Damit trat er einige Schritte auf sie zu, überbrückte die Distanz zwischen ihnen und beugte sich zu ihr hinüber. Instinktiv schloss sie die Augen, bevor sie schließlich seine Lippen auf den ihren spürte. Es war eine sanfte, zärtliche Berührung, so passend zu ihm. Und es war so schnell wieder vorbei, dass sie sich kurz fragte, ob sie es sich nur eingebildet hatte. „Ich weiß, es ziemt sich nicht, eine Prinzessin so zu behandeln“, sagte er. „Ich bin nur ein einfacher Bediensteter. Aber ich liebe Euch, Prinzessin Lithalil, seit ich Euch zum ersten Mal sah. Ich kann nichts dagegen tun. Und ich könnte es nicht ertragen, Euch nie mehr wiederzusehen, ohne Euch wenigstens einmal geküsst zu haben.“ Einen Augenblick lang sah sie ihn einfach nur an, unfähig etwas zu erwidern oder eine andere Reaktion zu zeigen. Sie war nicht verärgert oder gar erzürnt. Sie hatte diese Handlung nur einfach nie in Erwägung gezogen. Immer nur hatte ihr Herz für den Kampf geschlagen, über die Liebe hatte sie dabei nie nachgedacht, und doch, wenn sie nun zurückdachte an die vielen gemeinsamen Nächte, die sie Seite an Seite verbracht hatten, wurde es ihr plötzlich offenbar. „Es gibt nichts, für das du dich entschuldigen musst“, sagte sie. „Denn was Du fühlst, fühle ich ebenso. Spürst Du nicht, wie sehr wir verbunden sind?“ Und dann schlang sie ihre Arme um ihn und küsste ihn und alle vorsichtige Zärtlichkeit war verflogen.

Fortan genügte es Efrimir nicht mehr, ihr nur als Berater zur Seite zu stehen. Er wollte mit ihr in die Schlacht ziehen. Nicht so sehr, um sie zu beschützen –  denn er wusste, dass sie das nicht benötigte –  viel mehr, um ihr nahe sein zu können, immer. Er absolvierte die Ausbildung zum Krieger rasch und war überraschend geschickt im Umgang mit dem Schwert. Auch wenn es ihm nicht wie ihr in die Wiege gelegt worden war, ein guter Krieger zu sein, war er doch sehr lernfähig und so war er bald nicht nur ihr Geliebter und ihr Berater, sondern auch zu einem ihrer wertvollsten Mitstreiter geworden. Ihr Feuer war auf ihn übergesprungen. Es hatte sein Herz in Flammen gesetzt, für sie und für den Kampf. Und schließlich hatte es ihn verbrannt.

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Jeder hatte ihr versichert, dass sie keine Schuld traf. Es war seine eigene Entscheidung gewesen, für sie und die Freiheit Argonans zu kämpfen. Und doch erinnerte sie sich an diese eine Nacht im Mondblumengarten, als sie mit einem Kuss ihrer beider Schicksal besiegelt hatte. „Du musst mir etwas versprechen, Lithel“, hatte er geflüstert, tödlich verwundet von Nächtlerkrallen, und sie ein letztes Mal mit seinem ganz eigenen Kosenamen für sie angesprochen. „Befreie Argonan. Wer sonst, wenn nicht Du?“ „Ich verspreche es“, hatte sie gewispert und ihn ein letztes Mal geküsst. Sie wischte die Tränen weg, die sie sich an diesem Morgen zu vergießen gestattet hatte und erhob sich. Gestern war eine Nachricht von seltsamen Aktivitäten aus dem Gebiet der Momperi eingetroffen. Königin Gayia hatte ein Treffen mit ihren Verbündeten, den Satyren, einberufen und vermutlich würden sie noch heute gemeinsam dorthin aufbrechen. Noch wusste sie nicht, was sie dort erwarten würde. Aber sie spürte, dass etwas Großes im Gange war. Ihr Versprechen würde sie nie vergessen. Sie war fest entschlossen. Argonan würde wieder zu dem Ort, an dem Kinderlachen lauter war als Schreckensschreie. Dafür würde sie sorgen. Für Efrimir und für alle, die in diesem Krieg schon ihr Leben gelassen hatten.

 

(Verfasserin: Daniela Burggraf)